Kemari ist ein stark ritualisiertes Spiel, das seit über einem Jahrtausend in Japan gespielt wird, und eines von nur zwei uns bekannten historischen Ballspielen (neben Cuju aus China), welche mit den Füssen gespielt wurden.

Der hohe Stellenwert, den Kemari in der Gesellschaft genoss, ist historisch belegt und wurde über Jahrhunderte überliefert. Zudem ist es das einzige antike Ballspiel, über dessen Spielweise konkrete Details vorliegen.

WIE KEMARI
GESPIELT WURDE

Als Kind unterhielt Diego Maradona die Stadionbesucher vor Spielen in Buenos Aires oft mit seinen unglaublichen Jonglierkünsten. Er ahnte wohl kaum, dass er damit gewissermassen einer jahrhundertealten Kulturtradition aus Japan Tribut zollte, handelt es sich bei Kemari im Wesentlichen um eine hoch entwickelte, stark ritualisierte Vorführung von Jonglierkünsten.

DAS KEMARI-SPIELFELD

Kemari wird unter freiem Himmel auf einem quadratischen Spielfeld aus Erde gespielt. Jede Spielfeldseite ist sechs bis sieben Meter lang.

Bäume spielen beim Kemari eine zentrale Rolle, steht in jeder Spielfeldecke doch eine andere Baumart: im Nordwesten eine Kiefer, im Nordosten ein Kirschbaum, im Südosten eine Weide und im Südwesten ein Ahorn. Den Ball mit den Füssen in der Luft zu halten, ist schon schwierig. Ihn in einen Baum zu schiessen, ohne zu wissen, wie er von Stamm und Ästen abprallt, und ihn danach wieder zu kontrollieren, ist aber noch viel schwieriger.

DER KEMARI-BALL

Der Ball im Kemari ist hohl, besteht aus zwei zusammengenähten Hirschlederstücken und hat einen Durchmesser von rund 20 Zentimetern.

DIE SPIELER

Beim Kemari stehen in der Regel acht Spieler auf dem Feld – zwei in jeder Ecke.

DIE SPIELWEISE

Traditionsgemäss beginnt der ranghöchste Spieler, den Ball mit dem Fuss zu jonglieren, ehe er ihn zum Spieler mit dem zweithöchsten Rang passt. Ziel ist es, den Ball möglichst lange in der Luft zu halten, ohne dass er den Boden berührt. Die Spieler dürfen sich frei auf dem Feld bewegen, kehren bei einer Spielunterbrechung aber auf ihre Ausgangsposition zurück. Gezählt werden die erfolgreichen Ballberührungen.

Ein Spieler darf den Ball mehrmals hintereinander berühren, allerdings nur mit dem rechten Fuss, wobei drei Berührungen als ideal gelten: Mit der ersten wird der Ball angenommen und kontrolliert, mit der zweiten hoch über den eigenen Kopf senkrecht in die Luft geschossen – als Zeichen des Geschicks – und mit der dritten tief und sanft zum Mitspieler gepasst.

Um ihr Vorhaben kundzutun und die Bewegungen der Mitspieler zu koordinieren, rufen die Spieler eine von drei Anweisungen. Will ein Spieler den Ball annehmen, ruft er „Oh“, wenn sich der Ball am höchsten Punkt befindet. Rufen mehrere Spieler „Oh“, darf der Spieler den Ball annehmen, der am längsten ruft. Bei seiner zweiten Berührung ruft der Spieler „Ari!“ und bei der dritten „Ja!“, wenn er den Ball zu einem Mitspieler passt.

Darstellung (18. Jahrhundert) von Akisato Ritō mit Samurai-Kriegern, die bei einem Sommerfest Kemari spielen. Die acht Spieler tragen traditionelle Kemari-Kleidung und spielen vor Zuschauern auf einem Spielfeld mit einem Baum in jeder Ecke. Bei den Schriftzeichen auf der Darstellung handelt es sich um ein Gedicht, das das Fest und die Rolle des Kemari bei diesem Fest preist.

SPIELTAG!

Kemari-Begegnungen, Marikai genannt, bestehen aus drei Phasen:

In der ersten Phase, dem Aufwärmen, passten sich die Spieler den Ball zu und schossen ihn in die Bäume, um zu sehen, wie der Ball herunterfiel. In der zweiten Phase präsentierten die Spieler den Zuschauern ihre individuellen Fähigkeiten.

In der dritten Phase, die Kazumari hiess und jeweils gegen Abend stattfand, stand nicht mehr die individuelle Klasse, sondern das Zusammenspiel im Team im Zentrum. Die Spieler bewegten sich weg von den Bäumen zur Mitte des Spielfelds und zählten die Anzahl der Ballberührungen.

Im Kemari gibt es drei Phasen.

  1. Aufwärmen
  2. Zurschaustellen individueller Fähigkeiten
  3. Zusammenspiel im Team.

DIE SPIELBEKLEIDUNG

Die Spielkleidung, die in den Kemari-Ritualen eine wichtige Rolle spielt, besteht aus vier Hauptelementen: Das kunstvollste Kleidungsstück neben dem Hut (Eboshi), den Hosen aus Pfeilwurzfasern (Mari-hakama) und den Schuhen (Kamo-kutsu) ist der Mari-suikan. Diese Art Kimono mit langen Ärmeln aus rauer Rohseide zwingt die Spieler dazu, aufrecht zu stehen.

Kemari-Spieler im Jahr 2016 bei letzten Justierungen an seinen Schuhen, Kamo-kutsu genannt. Wörtlich übersetzt bedeutet dies «Enten-Schuhe».

Nach dem Anziehen der Spielkleidung beginnt der nächste Teil des Rituals. Der Ball wird in einem Schrein gesegnet und in den Garten (Mariniwa) gebracht, in dem sich das Spielfeld befindet. Bei einer Zeremonie, die Tokimari heisst, betet ein Mann, Edayaku genannt, für Wohlstand und Weltfrieden. Nun kann das Spiel beginnen.

Holzschnitt von Utagawa Kunisada (1786–1865) mit zwei Kemari-Spielern in traditioneller Kleidung aus der Edo-Zeit.
Nahaufnahme eines Mari-suikan, getragen von einem Kemari-Spieler.

DIE ZÄHLWEISE

Kemari ist die erste bekannte Ballsportart, in der Punkte gezählt wurden – was im heutigen Sport normal ist. Freilich wurde Kemari auch zum Spass gespielt, doch bei Wettkämpfen wurde ein Offizieller mit dem Zählen der Punkte betraut.

Im Unterschied zur Verwendung der Pfeife heutiger Schiedsrichter zählte der Offizielle die ersten 50 Ballberührungen lautlos, ehe er jede zehnte Berührung ausrief. Gelang den Spielern ein besonders gekonnter Schuss, schlug er zehn Bonuspunkte auf. In der Regel wurde vor jeder Begegnung eine Punktzahl festgelegt, bei der das Spiel enden sollte. Laut einer Quelle wurde bis auf 120, 300, 360, 700 oder 1000 Punkte gespielt – alles Zahlen mit astrologischer Bedeutung.

Aquarell auf Seide mit zwei Kemari-Spielern.

Obwohl es im Kemari primär um das Zusammenspiel im Team ging, gab es auch Begegnungen mit Wettkampfcharakter, bei denen zwei Teams mit je acht Spielern gegeneinander antraten. Jedes Team hatte eine zuvor festgelegte Anzahl an Versuchen, wobei das Team gewann, dem pro Versuch mehr Ballberührungen gelangen.

Darstellung aus dem 18. Jahrhundert, das Frauen beim Betrachten eines Kemari-Spiels zeigt.
Detail einer Holztafel im Kaiserpalast in Kyoto.

BEKANNTE KEMARI-SPIELER

Wie im heutigen Fussball gab es auch im Kemari Spieler, die grosse Berühmtheit erlangten, darunter Fujiwara no Narimichi, ein Hofadeliger im 12. Jahrhundert. Der begabte Flötenspieler, Dichter und Reiter war vor allem für seine Fähigkeiten im Kemari bekannt. Seinen Erzählungen zufolge spielte er Kemari an insgesamt 7000 Tagen – 2000 davon hintereinander!

Auszug aus einer Sammlung von Biografien historischer Persönlichkeiten wie Fujiwara no Narimichi.

Der Legende nach balancierte Narimichi auf der Balustrade der Terrasse vor der Haupthalle des Kiyomizu-dera-Tempels in Kyoto hin und her und jonglierte dabei mit dem Fuss einen Kemari-Ball – ein Fehltritt bei diesem Kunststück, und er wäre 13 Meter in die Tiefe gefallen!

Der Kiyomizu-dera-Tempel in Kyoto mit der Balustrade, auf der Fujiwara no Narimichi 13 Meter über dem Boden Kemari spielte.
Kiyomizu-dera-Tempel, Kyoto
Farbholzschnitt (1896) von Sei Shōnagon, der Autorin des „Kopfkissenbuch“. Der Druck zeigt sie auf Reisen mit dem traditionellen Hut und Schleier von Frauen.

FRAUEN UND KEMARI

Kemari wurde fast ausschliesslich von Männern gespielt. In der Erzählung „Towazugatari“ aus dem Jahr 1307 schreibt Nijō, dass Hofdamen wie sie im Sinne eines seltenen Schauspiels und zu ihrer grossen Verlegenheit zum Kemari-Spielen gezwungen wurden. Auch die Zuschauerrolle schien den Hofdamen nicht sonderlich zu behagen: So beschrieben die Autorinnen von „Kopfkissenbuch“ („Makura no Sōshi“) und „Die Geschichte vom Prinzen Genji“ („Genji Monogatari“) das Spiel als „widerliches Spektakel“ und „unmanierlich“.

Kolorierter Holzschnitt einer Kurtisane, die einen Kemari-Ball hält. Die Illustration ist Teil einer Sammlung, die Friedrich M. Trautz (1877-1952), ein bekannter Japanologe und Direktor des Deutsch-Japanischen Forschungsinstituts in Kyoto, zusammengestellt hat. Die Sammlung, welche eine Reihe von Kemari-Objekten enthält, hatte er testamentarisch dem Historischen Museum Bamberg vermacht. Inv. Nr. 24/2049a, Japanerin mit Kemari-Ball, Farbholzschnitt © Museen der Stadt Bamberg.
Farbholzschnitt (1784) von Murasaki Shikibu, der Autorin von „Die Geschichte vom Prinzen Genji“. Das vor über 1000 Jahren geschriebene Buch wird oftmals als erster Roman überhaupt bezeichnet. Protagonist dieser epischen Erzählung von Intrigen und Romanzen am alten japanischen Hof ist Genji, der Sohn des Kaisers. In Kapitel 34 – „Neue Kräuter“ dient eine Kemari-Begegnung als Kulisse für eine Szene, in der Genjis Frau verborgen hinter einem Bambusvorhang Genji und seinem Rivalen Kashiwagi beim Kemari zuschaut. Kashiwagi bemerkt sie, als eine Katze den Vorhang zur Seite schiebt. Dies ist der Auftakt zu einer Affäre zwischen den beiden.

FRÜHE
HINWEISE

Erstmals erwähnt wird dieses historische japanische Spiel wohl in „Nihongi“, einem der ersten Geschichtswerke Japans, das 720 n. Chr. vollendet wurde und auch als „Chronik Japans“ bekannt ist.

Band 12 einer Nihongi-Ausgabe von 1610, die in der National Diet Library in Tokio aufbewahrt wird. Hervorgehoben ist der Ausdruck "den Ball schlagen", der oft als Kemari interpretiert wird. Image provided by the National Diet Library Digital Collections

DIE LEITSÄTZE DES KEMARI

Während ein legendärer Sumokampf dazu geführt haben soll, dass die Sonnengöttin Amaterasu die Herrschaft über Japan erlangte, ranken sich um den Ursprung des Kemari keine solchen Mythen. Gemäss einer von Kronprinz Naka no Ōe und seinem Berater Nakatomi no Kamatari in „Nihongi“ erzählten Geschichte war das Spiel für die guten Umgangsformen und die Fairness der Spielteilnehmer bekannt.

KRONPRINZ NAKA NO ŌE

Triptychon (um 1792) von Chōbunsai Eishi, das dichtende Frauen zeigt.

KEMARI UND POESIE

Kemari und Poesie galten als kompatible, wenn nicht gar als vergleichbare Kunstformen. Ähnlich wie sich Menschen versammelten, um Gedichte zu schreiben, vorzutragen und zu würdigen, sassen sie unter Bäumen zusammen, um einem Kemari-Spiel beizuwohnen. Fanden Veranstaltungen mit einem dieser Zeitvertreibe nur unter Adligen statt, so folgten sie ganz eigenen Verfahren und Protokollen.

WAKA

“Wenn du Kemari unter
einem Kirschbaum spielst,
der in voller Blüte steht,
schiesst du mit dem Ball
die Blüten von den Ästen.
Spiel deshalb lieber auf
einem Feld ohne Bäume."

Aus einem frühen Waka mit
Kemari, circa 1135

Farbholzschnitt von Hishikawa Sōri (um 1800). Die beiden Wakas auf der linken Seite der Illustration haben Kemari zum Thema. Image provided by courtesy of the Museum of Fine Arts in Boston

KEMARI AM
KAISERHOF

Im 12. Jahrhundert hatte sich Kemari als beliebtes Hofspiel etabliert, das nicht mehr nur Adlige, sondern selbst die Kaiser verfolgten.

Darstellung des Kaiserpalasts in Kyoto.
Farbholzschnitt (1863) von Utagawa Yoshimori, der ein Kemari-Spiel im Palast in Kyoto zeigt. Der Zuschauer im grünen Gewand ist der Shogun Tokugawa Iemochi (1846-1866), der 14. Shogun des Tokugawa Shogunats. Im Hintergrund, in den blauen Gewändern, stehen Samurai-Krieger, die dem Geschehen zuschauen. Image provided by courtesy of the Museum of Fine Arts in Boston
Farbholzschnitt auf Papier (um 1841) von Utagawa Hiroshige mit dem Kaiserpalast in Kyoto.

ZUNEHMENDE BELIEBTHEIT AM HOF

Die Beliebtheit von Kemari am Hof führte zur Formalisierung und Verfeinerung des Spiels, da im Kaiserpalast gute Manieren, Ehrerbietung und formale Abläufe oberste Priorität hatten.

Kemari entwickelte sich von einem Zeitvertreib zu einer fein abgestimmten Kunstform, die ein Hauch von Elitarismus und Kultiviertheit umgab.

KEMARI SPIELENDE KAISER

KEMARI
UND DAS
SHOGUNAT

Ab 1185 verlagerte sich die politische Macht in Japan vom Kaiser und seinem Hof auf die Kriegerklasse der Samurai, die dem Shogunat unterstand. Der führende Samurai des Shogunats musste jedoch weiterhin Kontakte zum Kaiser und zum Adelsstand pflegen – und Kemari bot genau diese Möglichkeit.

WAS IST DAS SHOGUNAT?

Farbholzschnitt als Triptychon (1897) von Yōshū Chikanobu mit Samurai-Kriegern, die ein Kemari-Spiel verfolgen. Die Samurai lernten die Feinheiten des Kemari von den Adligen am Hof.
Zwei Samurai-Krieger in Uniform und Rüstung.

KEMARI UND DIE SAMURAI

Die Samurai gewannen nach dem Krieg zwischen dem südlichen und dem nördlichen Hof an Bedeutung. Doch welches Interesse hatten sie als berühmte und gefürchtete Krieger, Kemari spielen zu lernen? Die Antwort liegt im zunehmenden Umgang mit den Adligen.

Da die Samurai vermehrt mit dem Adel Geschäfte machten, mussten sie sich auch mit der Kultur und den Traditionen Kyotos, der damaligen Hauptstadt, vertraut machen und gute Beziehungen zum Kaiserhof pflegen.

FORTSCHRITT DANK KEMARI

Ähnlich wie die Samurai, die versuchten, durch das Erlernen von Kemari Anschluss an die Aristokratie zu finden, lassen sich Parallelen zu heutigen Fussballern ziehen. Spieler, so wie hier Gareth Bale, lassen sich immer wieder beim Golfspielen ablichten, einem Sport, der traditionell mit der Elite in Verbindung gebracht wird.

Die Funktion von Sport und Kultur als Ausdruck der gesellschaftlichen Stellung hat sich fast unbemerkt bis in die heutige Zeit fortgesetzt.

VERGLEICH MIT MODERNEN SPORTARTEN

Die Idee, durch Sport in höhere Ränge aufzusteigen oder mit entsprechenden Vertretern zu verkehren, so wie die Samurai dies mit Kemari taten, ist auch im heutigen Sport alltäglich.

Sportarten wie Pferderennen, Cricket, Golf oder Tennis zu betreiben oder sich mit diesen auszukennen sowie sich für Kunst und Musik zu interessieren, sind oft Voraussetzung – oder zumindest hilfreich –, um innerhalb der Gesellschaft ein gewisses Ansehen zu geniessen.

DIE ASUKAI

Die Asukai gehörten zu den wichtigsten Adelsfamilien, die Kemari kontrollierten. Sie entsandten Vertreter nach Kamakura, um dem Shogunat die richtige Technik und Vorgehensweise zu vermitteln und gar Urkunden auszustellen für jene hochrangigen Samurai, die würdig waren, mit den Adligen des Kaiserhofs bei einer Kemari-Darbietung zu verkehren.

Da die Kontrolle des Kemari zur Mitte des 17. Jahrhunderts fast allein den Asukai oblag, galten sie als Iemoto, die Gründerfamilie des Kemari.

Als Kemari auch in Städten und Dörfern immer beliebter wurde, ernannten die Asukai örtliche Vertreter, die die Integrität der Sportart wahrten – und dafür sorgten, dass die Familie nichts von ihrem Einfluss auf das Spiel einbüsste. Das Geld, das die Spieler bezahlten, um teilzunehmen und Lizenzen zu erhalten, die ihnen ein bestimmtes Niveau attestierten – ähnlich wie bei den Gürteln oder Dan in den modernen Kampfkünsten –, stellte eine wichtige Einnahmequelle dar.

Farbholzschnitt (1875) von Tsukioka Yoshitoshi, der Asukai Masanori (links) zeigt, wie er vor dem Shogun Tokugawa Yoshimune (rechts) Kemari spielt.

DIE KEMARI-HÄUSER

DAS SPIEL FÜR
GANZ JAPAN

Mit dem Ōnin-Krieg (1467–1477) endete die Blütezeit des Kaiserhofs als Mittelpunkt des Kemari. In den nächsten 400 Jahren breitete sich das Spiel im ganzen Land aus und wurde zu einem festen Bestandteil der japanischen Volkskultur.

Karte des feudalen Japans aus der Zeit nach dem Ōnin-Krieg.

GEOGRAFISCHE AUSBREITUNG
NACH DEM ŌNIN-KRIEG

Während des Ōnin-Kriegs wurden grosse Teile Kyotos zerstört, und viele Einwohner flohen in andere Teile des Landes und nahmen kulturelle Elemente mit, u. a. Kemari. Im Laufe des turbulenten 16. Jahrhunderts, auch als Zeit der streitenden Reiche bekannt, reisten aufeinanderfolgende Oberhäupter der Asukai-Familie durch das Land, um dafür zu sorgen, dass die Regeln überall, wo Kemari gespielt wurde, eingehalten wurden.

Über einen Zeitraum von 400 Jahren verbreitete sich Kemari in ganz Japan und verlor dabei seinen Status als der Elite vorbehaltener Sport.

Darstellung von Oda Nobunaga zu Pferde. Der Feldherr, der später als „Reichseiniger“ bezeichnet wurde, half, die Zeit der streitenden Reiche zu beenden.
Hängerolle (16. Jahrhundert), die einen Frühlingspilgerzug auf dem Weg zum Chōmeiji-Tempel östlich von Kyoto zeigt. Auf der linken Seite in der Mitte der Rolle ist ein Kemari-Spielfeld zu sehen, auf dem Mönche und Pilger spielen und mit ihren Jongliereinlagen die Frühlingsblüten von den Kirschbäumen in den vier Ecken des Spielfelds schiessen. Diese Darstellung ist bemerkenswert, denn sie zeigt einerseits ein Kemari-Spiel ausserhalb des traditionellen Zentrums Kyotos und andererseits Spieler, bei denen es sich weder um Adlige noch um Samurai handelt. The Metropolitan Museum of Art, New York

GESELLSCHAFTLICHE AUSBREITUNG WÄHREND DER EDO-ZEIT

Im 17. Jahrhundert begann in Japan eine längere Zeit des Friedens und der Stabilität – die Edo-Zeit, benannt nach der neuen Hauptstadt des Shogunats, dem heutigen Tokio. Sie bot ideale Voraussetzungen für die Verbreitung von Kemari, sowohl geografisch als auch in allen gesellschaftlichen Klassen.

Mithilfe örtlicher Vertreter in den Städten und Dörfern im ganzen Land dehnten die Asukai ihren Einfluss innerhalb jener Klassen der Gesellschaft aus, die bisher keinen Zugang zu Kemari gehabt hatten. Vermögendere Bürgerliche wie Kaufleute in den Städten, Gutsbesitzer auf dem Land oder Priester interessierten sich neben anderen vornehmen Kunstformen wie Teezeremonien oder Poesie erstmals auch für Kemari.

Die Konkurrenz versuchte zwar, die Macht der Asukai infrage zu stellen, scheiterte jedoch. 1647 wurde ein Bürgerlicher auf eine abgelegene Insel verbannt, weil er eine unzulässige Art des Kemari lehrte – mit anderen Worten: weil er ohne Lizenz Kemari spielte. So behielten die Asukai bis zum Ende der Edo-Zeit 1868 die Kontrolle über die Einheitlichkeit von Kemari als Sportart.

Darstellung von Kawamata Tsuneyuki aus der Edo-Zeit.

DIE GESCHICHTE VON SUKEZAEMON

Sasaki Sukezaemon war ein örtlicher Beamter der Bürgerklasse und lebte in Mochigase, einer von vielen Städten entlang der Inaba Kaidō, einer Route zwischen Tottori und Himeji. In seinem Tagebuch hielt er jede seiner zahlreichen Teilnahme an Kemari-Spielen fest.

Tusche und Farbe auf Seide von Reizei Tamechika (1823-1864). Reizei Tamechika / Freer Gallery of Art, Smithsonian Institution, Washington, D.C.: Purchase - funds provided by the Friends of the Freer and Sackler Galleries, F2002.2a-h

In einer Urkunde im Familienarchiv, die 1771 von einem Vertreter der Asukai-Familie ausgestellt wurde, wird er als Schüler bezeichnet. Dort ist auch die Kleidung angegeben, die er beim Spielen tragen durfte. Dies zeigte seinen gesellschaftlichen Status und seinen Rang in der Hierarchie der Asukai-Kemari-Welt. Neben den Einwohnern Mochigases spielte Sukezaemon auch an der Seite von Samurai aus Tottori und Besuchern aus der Provinz Harima am anderen Ende der Inaba Kaidō.

Die 1771 vom Oberhaupt der Familie Asukai an Sasaki Sukezaemon erteilte Lizenz. Provided by Tottori Prefectural Archives courtesy of Sasaki Family Archives, Tottori City, Mochigase Town.

Unterschiedliche Spielstile je nach Klasse

Der gesellschaftliche Hintergrund hatte deutliche Auswirkungen auf die Technik der Spieler während der Spiele. Menschen mit niedrigerem Status – z. B. Hofdiener, -beamte oder -wächter – leisteten hauptsächlich körperliche Arbeit, die Geschick und Schnelligkeit verlangte, was ihnen beim Kemari zugutekam. Ihr primäres Ziel bestand darin, den Ball möglichst oft zu jonglieren und um jeden Preis zu verhindern, dass der Ball den Boden berührte, was zu dynamischen, akrobatischen Bewegungen führte.

Farbholzschnitte von Utagawa Hiroshige (1797-1858). Image provided by courtesy of the Museum of Fine Arts in Boston

Hauptziel der adligen Spieler hingegen war nicht eine möglichst hohe Punktzahl, sondern vielmehr Würde und Haltung – „hin“ auf Japanisch – zu bewahren. Beim Spielen des Balls das Knie anzuwinkeln, war verpönt und galt als würdelos.

Farbholzschnitt von Hishikawa Moronobu (1618-1694). Collection of the Honolulu Museum of Art. Gift of James A. Michener, 1991 (21658).

Ein weiterer Unterschied je nach gesellschaftlichem Hintergrund waren die Rücksicht und das Feingefühl gegenüber den Mitspielern, was sich vor allem bei der Annahme des Balls zeigte. In Spielen der einfachen Leute gingen die Spieler aggressiver auf die fliegenden Bälle. Höflinge waren diesbezüglich zurückhaltender.

Farbholzschnitt von Isoda Koryūsai (1735–1790). Image provided by courtesy of the Museum of Fine Arts in Boston

KEMARI IN
DER MODERNEN
WELT

Kemari gehört zwar zum kulturellen Erbe Japans, wird aber nicht mehr vielerorts gespielt. Gegen die Konkurrenz durch andere japanische Sportarten wie Sumo, das die Massen anzuziehen vermochte, konnte sich Kemari nicht behaupten.

Aufgrund dieses Niedergangs, den moderne, aus dem Ausland eingeführte Sportarten wie Fussball und Baseball weiter beschleunigten, wurde sogar ein Verein zur Erhaltung des Kemari gegründet.

Obwohl sich in der Edo-Zeit ein
neues, breites Publikum für die
Regeln des Kemari interessierte,
zeichnete sich mit dem
bevorstehenden Einfluss der
abendländischen Kultur bereits
der dramatische Niedergang
des traditionellen Ballspiels ab.

DER NIEDERGANG NACH DER MEIJI-RESTAURATION

Die grosse Beliebtheit, der sich das Kemari während der Edo-Zeit erfreut hatte, überstand den turbulenten Übergang in die Moderne im Zuge der Meiji-Restauration 1868 nicht.

Wesentlichen Anteil daran hatte die komplett veränderte Rolle der Adeligen nach der Restauration. Sie wurden in einen neuen Adelsstand erhoben, den Kazoku, wodurch sie ihre vererbbare Macht und ihre Funktionen verloren. Dadurch brach das gesellschaftliche und wirtschaftliche Fundament weg, auf dem das Kemari gegründet worden war und seine Blütezeit erlebt hatte.

Mit dem Amtsantritt von Kaiser Meiji 1867 brach in Japan ein neues politisches Zeitalter an. Mit dem Ziel, das unter dem Shogunat feudale, isolationistische Japan zu verändern, leitete er diverse Modernisierungsreformen ein. Mit einem triumphalen Umzug, der in der Darstellung zu sehen ist, verlegte der Kaiser seinen Sitz von Kyoto nach Edo, das seit 1603 vom Tokugawa-Shogunat regiert worden war. Mit der Umbenennung Edos in Tokio beendete Kaiser Meiji das Kapitel der Edo-Zeit in der japanischen Geschichte.
Familienporträt (um 1880) mit Kaiser Meiji sitzend.

Da die Asukai all ihre Konkurrenten ausgeschaltet hatten, war niemand mehr da, der die Spielregeln hätte durchsetzen können. Die breite Übernahme westlicher Werte und Sportarten sowie die vergleichsweise hohen Kosten, die mit dem Kemari verbunden waren, führten dazu, dass die Sportart nur noch ein Schattendasein fristete.


Da die Gebühren, die für traditionelle japanische Sportarten überlebenswichtig sind, nicht mehr bezahlt wurden, war das Kemari keine echte Einnahmequelle mehr. Andere Sportarten passten ihr System jedoch rasch der modernen Welt an: So wurde aus dem Sumo ein Zuschauersport, während sich die Kampfkunst als Sport- und Fitnessform positionierte.

Sumo und Judo haben überlebt

Sumo hat primär überlebt, indem es sich ab dem 17. Jahrhundert als Zuschauersport etablierte. Dank den Massenmedien blühte Sumo auf und sicherte sein Überleben dank seiner aus zahlenden Zuschauern bestehenden Anhängerschaft.

Farbholzschnitt (frühe 1850er-Jahre) von Utagawa Yoshimune. Im Vergleich zu Kemari zog Sumo viele Zuschauer an und sicherte so sein Überleben bis in die heutige Zeit.

Die Kampfsportarten beschritten einen anderen Weg. Eine Pionierrolle kam dabei dem Lehrer Kanō Jigorō zu, der Judo als Form der körperlichen Betätigung entwickelte, die sich in das Bildungssystem integrieren liess. Die vielen lokalen Trainingsräume, die sogenannten Dojos, trugen nicht nur wesentlich zur Popularisierung des Judo bei, sondern waren auch eine Einnahmequelle für die Lehrer, die von den Schülern eine Unterrichtsgebühr verlangen konnten.

Foto von Kanō Jigorō (1860–1938), dem Begründer des Judo.
Postkarte (1918), die Studenten im Judotraining zeigt.
Frühe Fotografie (1890er-Jahre) eines Sumo-Kampfes in einer Freilichtarena beim Ekō-in-Tempel in Ryōgoku (Tokio). Der erste Kampf in dieser Arena lässt sich auf das Jahr 1768 zurückdatieren.

DIE ERHALTUNG
UND WIEDERGEBURT DES KEMARI

Ohne den Verein zur Erhaltung des Kemari, der 1903 in Kyoto von einer kleinen Gruppe Adliger gegründet wurde, wäre die Sportart für immer verschwunden. Im Unterschied zum Sumo hatte sich das Kemari nicht als Zuschauersport etabliert. Und obwohl das Kemari jede Verbindung zu Militarismus, die anderen Sportarten geschadet hatte, vermied, bedurfte es zur Rettung der Sportart einer kleinen Gruppe von Enthusiasten.

DER VEREIN ZUR ERHALTUNG DES KEMARI

Foto (2015), das ein Kemari-Spiel vor dem Shimogamo-Schrein in Kyoto zeigt.

CHRONIK DES VEREINS ZUR ERHALTUNG DES KEMARI

19
03

Der Verein wird gegründet in Kyoto

15

Der Verein tritt vor zwei Prinzen auf

19

Kaiser Yoshihito wohnt einer Kemari-Darbietung bei

22

Mitglieder des Vereins treten vor Edward, Prinz von Wales, auf. Im offiziellen Buch zur Japanreise des Prinzen lautet die Bildunterschrift: „Spieler einer Urform des Fussballs, ‚Kemari‘ genannt, in Kyoto“

46

Kemari ist 1946 Teil des ersten nationalen Sportfests nach dem Krieg.

61

Kronprinz Akihito und Kronprinzessin Michiko wohnen einer Kemari-Darbietung im Kaiserpalast in Kyoto bei

63

Eine Kemari-Darbietung im Kaiserpalast in Kyoto wird vom japanischen TV-Sender NHK live übertragen. Im Januar erlaubt der Verein auch Frauen den Beitritt

64

Verhandlungen zu einer Kemari-Vorführung bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio scheitern mangels Finanzierung. 20 Mitglieder reisen dennoch nach Tokio und tragen eine Woche vor der Eröffnungsfeier ein Kemari-Spiel auf einem temporären Spielfeld auf dem Gelände des Meiji-Schreins aus

75

Der Verein tritt vor Queen Elizabeth II. auf

86

Beim Festival der traditionellen Künste und des traditionellen Handwerks in Paris hat der Verein einen ersten Auftritt im Ausland

92

Der Verein nimmt am Festival „Sportkulturen der Welt“ in Bonn (Deutschland) teil und tritt später in Kyoto vor US-Präsident George H. W. Bush auf, der die Gastgeber überrascht, indem er mitspielt.

97

Der Verein präsentiert die Herausforderungen der Zukunft, die alle heute noch Bestand haben, u. a. begrenzte Mittel, Probleme bei der Rekrutierung und der Beschaffung von Bällen, fehlende Trainingsfelder und die horrenden Kosten für die Spielkleidung

Szenen eines Kemari-Spiels im Kazoku-Kaikan in Kyoto. Eine Zeit lang diente das Gebäude als Versammlungsort des Adels. Inv. Nr. 24/1358 und 24/1359, Filmaufnahmen eines Kemari-Ballspiels, Japan, 1932, Friedrich M. Trautz, © Museen der Stadt Bamberg.

KEMARI UND SEIN PLATZ
IN DER SPORTGESCHICHTE

Kemari wird auch heute noch gespielt und gefeiert und gilt als kulturelles Erbe Japans. Als Ballspiel, das nur mit den Füssen gespielt wird, ist es zweifelsohne auch ein Vorläufer der diversen modernen Fussballvarianten, namentlich des Association Football, des klassischen Fussballs.

Obschon dem Kemari der Übergang von der traditionellen zur modernen Sportart nicht gelang, erfüllte es in seiner Blütezeit einige der sieben Kriterien, die gemäss dem Historiker Allen Guttmann eine moderne Sportart definieren. Kemari war weltlich und beruhte nicht auf religiösem Glauben oder Aberglauben, war mit seinem Regelwerk bürokratisiert, war rational und wissenschaftlich, quantifiziert und bestimmt vom Streben nach Rekorden.

Den Sprung in den modernen Sport hat das Kemari vielleicht verpasst, doch mit dem Ballzauber von Diego Maradona und Co. sowie mit neuen Sportarten wie Freestyle-Fussball leben sein Geist und sein Vermächtnis weiter.

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